Tempo 30 innerorts: wieso nicht überall?

An vielen Orten und in vielen Nachbarschaften wünschen sich die Anwohnerinnen und Anwohner einen langsameren Autoverkehr. Doch Forderungen nach einer Geschwindigkeitsbegrenzung verlaufen oft im Sande, scheinen an höheren Mächten zu scheitern, finden kein Gehör oder schlicht keine Mehrheit in den Gremien und Parlamenten. Nicht nur in Mauerstetten sind die Bürger*innen unzufrieden über den Umgang mit ihrem Interesse an Sicherheit und Lebensqualität.

Immer häufiger stellt sich die Frage: Warum wird nicht flächendeckend Tempo 30 innerorts eingeführt – und Straßen mit Tempo 50 zur Ausnahme gemacht? An vielen Orten könnten auch zahlreiche Schilder eingespart werden, die viele gesonderte Tempo-30-Bereiche unnötigerweise kennzeichnen.

Ampel auf Gelb? Was die Bundesregierung vorhat

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wurden die Ziele der Verkehrspolitik so formuliert:

Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen.

Koalitionsvertrag zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, 2021, S. 52

Aus Sicht der GRÜNEN muss die Straßenverkehrsordnung gründlich reformiert werden hin zu einer Menschen-orientierten StVo – anstatt einer Auto-orientierten StVo. Die politischen Entscheidungen sollen möglichst auf der nähesten politischen Ebene getroffen werden, also beim innerörtlichen Verkehr in der Kommune. Der Koalitionsvertrag bekennt sich des Weiteren explizit zur Umsetzung der Vision Zero.

Vision Zero: keine Todesfälle mehr im Straßenverkehr

Die Vision Zero bedeutet das Ziel, dass es keine („zero“ = „null“) Verkehrstote oder Schwerverletzte bei Verkehrsunfällen mehr geben soll. Als Zielvorgabe ist die Vision Zero bereits in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) gleich in § 1 1.I. als „Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen“ verankert.

Eine der effektivsten und einfachsten verkehrspolitischen Maßnahmen, um die Vision Zero zu verwirklichen, ist dabei nachweislich das Tempolimit. Zahlreiche Städte und Gemeinden in Europa haben bereits eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Tempo 30 innerorts eingeführt und die Unfallzahlen dadurch enorm reduzieren können – vor allem die schweren Unfälle mit Kindern als Todesopfern.

Die Erklärung für die deutlich erhöhte Verkehrssicherheit ist simpel, kann theoretisch gut untermauert werden und bedarf eigentlich keiner Feldversuche oder weiterer Pilotprojekte zur Überprüfung:

  • Der Bremsweg bei Tempo 30 ist halb so lang wie bei Tempo 50: Nach 15 Metern ist ein Auto, das mit 30 km/h unterwegs war, bereits zum Stehen gekommen. Ein Auto, das mit 50 km/h unterwegs ist, hat nach 15 Metern aufgrund der Reaktionszeit noch fast die vollständige Geschwindigkeit.
  • Die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einem Aufprall ist drei Mal höher bei 30 als bei 50 km/h. Bei 50 km/h trifft ein Auto einen Menschen so stark, als würde er aus 10 Metern Höhe stürzen – weniger als ein Drittel der Personen überleben. Bei 30 km/h entspräche die Kollision einem Sturz aus 3,5 Metern und die Überlebenschanche ist bei 90 %.
  • Außerdem ist der Straßenlärm bei Tempo 30 drei Dezibel geringer als bei Tempo 50. Dies entspricht in der menschlichen Wahrnehmung einer Halbierung der Lärmbelastung.

Tempo 30 als neue Standard-Geschwindigkeit in Ortschaften in der EU

Im vergangenen Jahr hat das Europäische Parlament aus diesen Gründen unter anderem eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h in Wohngebieten und Orten mit hohem Rad- und Fußgänger-Verkehr beschlossen. Die EU hatte ihr selbstgestecktes Ziel, die Zahl der Verkehrstoten zu senken, deutlich verfehlt. Das Parlament plädiert deshalb für konkretere Maßnahmen als bisher – und sieht vor allem Tempo 30 in Städten und Dörfern als geeignetes Mittel.

Viele europäische Städte haben es bereits zuvor umgesetzt. So gilt in Graz bereits seit 1992 Tempo 30 in den Wohngebieten; nur in Durchfahrtsstraßen ist Tempo 50 erlaubt. Helsinki hatte seit 1987 ein Tempolimit von 40 km/h in Wohngebieten, weitete dies 1992 auf die gesamte Innenstadt aus und senkte es mittlerweile auch auf Tempo 30. In den Innenstädten von Antwerpen, Brüssel, Lille, Grenoble, Dublin, Amsterdam, vielen Schweizer Städten und allen italienischen Metropolen gilt fast überall Tempo 30.

Auch Paris hat seit 2021 flächendeckend Tempo 30; nur auf der Stadtautobahn und einigen wenigen wichtigen Verkehrsachsen darf schneller gefahren werden.

London, wo bereits 1991 die erste Tempo-30-Zone (bzw. 20 mph) geschaffen wurde, gilt als Vorreiter und hat mit Langzeitstudien viele interessante Erkenntnisse über die Verkehrssicherheit gewonnen. So wurde unter anderem nachgewiesen, dass nach der Einführung von 20 mph fast 42 % weniger Unfälle passieren als zuvor. Seit 2020 gilt das 20 mph Limit im gesamten Stadtzentrum, bauliche Maßnahmen tragen zusätlich dazu bei, Verkehrsunfälle effektiv zu verhindern.

Spanien hat als erstes Land generell Tempo 30 innerorts eingeführt. Seit gut einem Jahr gilt dies auf allen Straßen, die nur eine Fahrspur pro Fahrtrichtung haben – was bei rund 80 Prozent der innerörtlichen Gebiete der Fall ist. Gibt es für beide Fahrtrichtungen nur eine Fahrspur ohne Fahrbahnmarkierung in der Mitte, ist die Höchstgeschwindigkeit sogar bei Tempo 20.

Städteinitiative Tempo 30 in Deutschland

Auch in Deutschland gibt es Städte wie etwa Mainz und Hannover, die bereits Tempo 30 in den Innenstädten flächendeckend eingeführt haben. Doch immer wieder stoßen kommunale Entscheidungsträger auf Hürden und übergeordnete Vorschriften, die es erschweren, Tempo 30 jenseits von Wohngebieten, Kindergärten sowie besonderen, aufwendig nachgewiesenen Lärmschutzerfordernissen oder konkreten Gefährdungen einzuführen.

Deshalb haben die Städte Aachen, Augsburg, Freiburg, Hannover, Leipzig, Münster und Ulm im Juli 2021 eine kommunale Initiative für Tempo 30 innerorts gestartet. „Die Initiative bekennt sich zur Mobilitätswende und fordert den Bund auf, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kommunen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts anordnen können, wo sie es für notwendig halten“, fasst der Deutsche Städtetag zusammen, der die Initiative als kommunaler Spitzenverband gemeinsam mit Agora Verkehrswende organisiert und unterstützt.

Mittlerweile engagieren sich rund 200 Städte und Gemeinden in der Initiative für mehr kommunale Entscheidungsfreiheit bei der Anordnung von Tempolimits. Im Koalitionsvertrag der Ampel im Bund ist in der oben zitierten Passage schon die Ansage gemacht, dass die Spielräume der Kommunen erweitert werden sollen. Nun muss das Bundesverkehrsministerium mit der Umsetzung in die Gänge kommen. Wir begrüßen ausdrücklich die Teilnahme der Stadt Marktoberdorf an der Initiative „Lebenswerte Städte und Gemeinden durch angemessene Geschwindigkeiten“, unterstützen die von der Initiative formulierten Forderungen und wollen die Teilnahme weiterer Ostallgäuer Kommunen fördern.

Für immer unter 30 – die Kampagne der Deutschen Umwelthilfe

Mit einer neuen Kampagne will auch die Deutsche Umwelthilfe dem Thema zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen: „Mit Tempo 30 innerorts sorgen wir dafür, dass der Verkehr sauberer, sicherer, leiser und gleichmäßig fließt“, heißt es von deren Seite. Dort kann man auch eigene Verkehrsschilder zum Aufstellen am Gartenzaun bestellen oder Antragsvorlagen erstellen lassen, um bei der eigenen Kommune konkrete Forderungen für Geschwindigkeitsbeschränkungen an bestimmten Straßen einzubringen.